A Guy Called Gerald Unofficial Web Page: Article

A Guy Called Gerald
 
A Guy Called Gerald Unofficial Web Page - Article: Spex - A Guy Called Gerald Spex
No. 6
June 1995
Page: 16
 
A Guy Called Gerald Unofficial Web Page - Article: Spex - A Guy Called Gerald

Ist das noch Hardcore, Techno oder schon Jungle? Mit »Black Secret Technology(( hat Gerald Simpson, schon seit den Tagen der Acid-Hausse ein Mann mit vielen Gesichtern, eine Platte gemacht, die alle stilistischen Zuweisungen unterläuft und die Geheimlehre für künftige Generationen von Mixern im visuellen Zeitalter definiert. Ein Traum aus Voodoo, Cyberjazz und Energy.

Musik? Warum Muss Man bloss immer wieder sagen, dass im Grunde doch alles Musik heissen sollte? Eine ganze Generation englischer Musiker sträubt sich hartnäckig gegen die Vereinnahmung eines Stils. Die Erklärung, sie würden sich nur deshalb begrifflich nicht festlegen lassen wollen, weil Hardcore jahrelang als billiges Offshoot der Computerindustrie verschrien war, kann hier nicht Mehr greifen. Bukem, Adam F, 4 Hero, Rob Playford - sie und viele Mehr wollen, nachdem sie Mit Hardcore den einzigen originär britischen Gegenpol zu HipHop oder Techno geschaffen haben, ihre Zukunft nicht ein für alle Mal von Schlagworten dieser Art zumauern lassen - zumal für sie alle gerade wieder neue Türen aufgestossen worden sind.

Gerald Simpson nimmt in diesem Zusammenhang natürlich eine Sonderstellung ein. Seine Art, Hardcore zu produzieren, hat in dem kleinen Kosmos, der hierzulande als Jungle nahezu genauso Missverstanden wird wie Techno durch die Gleichsetzung Mit Low Spirit und Hardtrance, einen Musikalischen Bereich aufgetan, der immer noch Mehr ein Versprechen auf eine ungewisse Zukunft hinist als ein fertig ausgereiftes Produkt, das sich dem Musikmarkt als MiniMarketingpartikel an den Hals wirft.

Ich besuche Gerald in seinem Londoner Exil. Aus Manchester ist er endgültig weggezogen - eine eher traurige Angelegenheit. »Manchester ist nicht gut«, sagt er still, und damit will er alles gesagt haben. Keine Szene, zu viel Gewalt, ein Vakuum, keine Hoffnung. Er hat nicht Mal Mehr Lust zurückzufahren, um den Rest seiner Sachen abzuholen. Lieber sitzt er in seinem fensterlosen Studio am Ufer der Themse und produziert neue Tracks. Raucht ein paar Spliffs zuviel Mit Lady Miss Kier (die Mir die Tür öffnet, als ich zum Interview antrete) und sammelt seine Erinnerungen. Vor ihm liegt ein kleiner Karton Mit hundert DAT Tapes. Sein Lebenswerk. Er tappst darin herum und fischt ein Stück Leben nach dem anderen heraus. Sein Leben ab einem frühen Moment, festgehalten in kleinen Stücken Musik. Es ist alles da.

Als ich 1992 einem der Techno-Typen, für die Geralds »Voodoo Ray« noch heute eine Legende ist, davon in Kenntnis setzte, dass A Guy Called Gerald jetzt Breakbeat Macht, war nicht nur das Wort >VerraU zum Greifen nahe - die Welt schien einfach nicht Mehr in Ordnung zu sein. Das Gesetz der geraden Bassdrum aus ihrem Zentrum heraus aus den Angeln zu heben und zu einer der vielen Nichtigkeiten des Tages gemacht zu sehen: unglaublich. Auf der anderen Seite erschien er vielen als Quereinsteiger oder Kuriosum. Dabei sieht Geralds Lebenslauf, die immense Popularität von »Voodoo Ray« Mal ausgenommen, im Grunde nicht viel anders aus als der Background vieler Hardcore-Producer.

Aufgewachsen im Ghetto als Schwarzer in England und B-Boy werden. Scratchen lernen, Musik Machen Mit unerwarteten neuen, aber greifbaren Mitteln. Experimentieren, weil alles andere zu teuer ist, und einen Stolz entwickeln, den Man nie wieder verliert: Ghetto Technology. Die Automatisierung der Welt durch Tricks umgehen. Wenn dir das System als Maschine begegnet, dann gibt es eine Möglichkeit, sich da durchzuhacken. Mitte der Achtziger Mit MC Tunes die Scratch Beat Masters, später dann The Hit Squad, die den 808-State-Hit »Pacific State« schreiben.

Schon gibt es den ersten Ärger mit der Industrie. Sein Soloprojekt A Guy Called Gerald läuft mit »Voodoo Ray« mehr als gut, aber die Sony legt ihn auf Eis, schickt ihn auf Tour durch die Staaten und verwickelt ihn in die Lethargie der Major Companies. Er darf noch ein Album, »Automanik«, unter grossem künstlerischen Druck machen. Seine zweite, freiere, »High Life - Low Profile« wird nie veröffentlicht. Zwischendurch schmuggelt er Tracks unter dem Namen Inertia auf Carl Craigs damaliges Label Retroactive und veröffentlicht als Ricky Rouge auf diversen Mini-Labels ein paar Housetracks. Alle drei Projekte zieht er Anfang '92, nach seinem Freikauf von Sony, zu seinem eigenen Label Juice Box zusammen.

Nun bringt seine Freundschaft mit Goldie Hardcore in das Zentrum seines Lebens. Juice Box konzentriert sich auf diese Musik, während sich die beiden Sublabel Juice Groove und Celestial auf House Respektive Techno konzentrieren. Bald ist Gerald einer der wichtigen Leute in der Drum-And-Bass-High-Society, die sich nach dem Ragga-Anschlag um Bukems Speed Club herum neu organisiert. Ein erschöpfendes Leben, in dem sich ein paar Spliffs zu viel rechtfertigen lassen.

Gerald und Kier turteln wie zwei alte Freunde durch die Geschichte von House - ihr gemeinsamer Nenner. KieR weiss nichts von Techno und lernt durch Geralds InertiaTracks erstmal, dass Techno nicht unbedingt Krach sein muss. Aber sie wird nicht müde zu erzählen, wie wundervoll Black Secret Technology« ist. Die Amis. GeRald ist froh, nicht alleine zu sein, alles mit jemand teilen zu können.

Das Stück, an dem die beiden arbeiten, der Track für Lady Miss Kiers Solo-Album, klingt wie ein typischer A-Guy-Called-Gerald-Track mit housigen Vocals von Kier. Sie hätte den Track gerne so wie »So Many Dreams« auf Geralds Platte. Ist verliebt in diese Stimme und versucht, an sie heranzukommen. Die Sätze ihrer VocalSamples werden von Gerald am Mischpult zerschnitten. Neu geordnet, ein Wort verhallt am Ende eines angeschnittenen Samples in einer neuen Bedeutung. Kier ist fasziniert und Gerald froh, etwas für jemanden tun zu können, den er mag.

Als einer der ganz wenigen arbeitet Gerald nicht mit Atari und Cubase oder Notator. Der tote Schirm eines Computers steht einäugig über seinem leuchtenden Mischpult. ER setzt die Tracks am Hardware-Sequencer zusammen, spielt alles auf 16-Spur-Bandmaschine und bearbeitet die Spuren beim Mix-Down noch mal am Mischpult. Das ist der Moment, in dem der Track entsteht. In dem er seine ganz persönliche Note bekommt. Der Moment, der alle Gerald-Tracks leicht spooky klingen lässt, sie zu Zwittern, zu Zwischenwelten werden lässt, wo der Körper zwischen maschineller Reproduktion und Handarbeit aufgeht. Schatten, in denen der viel zu gerne zitierte Antagonismus zwischen Natur und Technik verschwindet und sich in einer aufschaukelnden Spirale von Chaos und Kontrollstaat wiederfindet.

Demnächst wird Gerald das ganze Album » Black Secret Technology« für die Staaten Remisen. Und dabei Electros manische Vorwegnahme der interplanetarischen Eroberungen nicht vergessen. Viel von dem, was in dem idiomatischen Universum von Hardcore heute als Cyber/ Future/Technology auftaucht, geht direkt auf Electro zurück. Auf die seltsamen Verbindungen zwischen Voodoo, Science Fiction und moderne SpieleTechnologie. Auf eine Jugend zwischen Jazz, HipHop, Ragga und Pop.

Führt man sich all diese Einflüsse vor Augen, wird einmal mehr verständlich, wie sich die Jugendkultur jenseits dessen, was sich schnell etablieren lässt, immer wieder neu entwickelt. Und wenn man Gerald dabei zusieht, wie er leicht gebeugt über dem Mischpult steht, als wäre es ein Video-Spiel von Arcade; wie seine Augen begeistert und sich an der Bewegung berauschend den Fingern hinterhersehen; wie er das Mischpult gleich einer Tastatur behandelt und zum Klingen bringt; dann versteht man den Zusammenhang zwischen all seinen Projekten einfach besser. Die Manipulation der Schallplatte. Das Hörbare neu ordnen und unerhört machen.

Ricky Rouge, der ewige Lover, dessen Tracks in den Momenten des Wartens auf seine Geliebte entstehen, A Guy Called Gerald, der ewige Teenager, der die Ränder der Gesellschaft und die Grenzen seiner eigenen Vergesellschaftung annagt, und Inertia, der tote kosmische Punkt: Wie sich in allem eine Bandbreite auftut, die das alles zugleich abdecken muss, ohne die Schwerpunkte zu vergessen. Ist Gerald vielleicht einfach immer noch ein Kind, das sein Spielzeug aufschneidet, um herauszufinden, wie es funktioniert? Gerald Simpson trägt Turnschuhe mit Rückleuchten. Er dürfte der letzte sein, der sich selbst überschätzt, und fühlt sich in der Geborgenheit der Londoner Szene mit all ihren Mini-Kämpfen wohl. ER selbst als Mensch ist ihm Verwirrung genug. Mit jeder Bewegung Reißt man Bedeutungen auf, die sich nie wieder schliessen lassen, und er hofft, damit in die richtige Richtung zu treiben. Die Zukunft.

Gerald sieht die nächsten GeneRationen schon wieder ganz woanders. Das visuelle Zeitalter wird kommen. Musik ohne Bilder wird nichts mehr sein. Man kann natürlich behaupten, dass dieses Zeitalter mit MTV, Computergraphik und dem WWW schon längst da ist; dass die Splitter von Realität im Sample längst näher an der Visualisierung des Hörbaren liegen, als man vermuten möchte; und dass HaRdcore uns in direkter Form Bilder vermittelt, die einfach im Halbschlaf des alltäglichen Bewusstseins untergehen, irgendwann aber auftauchen werden, wenn die Generation, die mit HardcoRe aufwächst und ausserhalb davon keinen Bezugspunkt mehr hat, ihrerseits die Technik in ihrer Weise missbraucht.

TV Pirates, Homemade Videos. Nachrichtensprecher, die plötzlich nackt vor der entgeisterten Bevölkerung sitzen, weil ihnen irgend jemand die Bluebos unterm Arsch weggezogen hat. Während die jetzige Generation die akustische Manipulation grösstenteils zu ihrer Selbstidentifikation benutzt, wird die nächste, die Generation visueller Manipulation, irgendwo in der Form des Terrors auftauchen. Alles eine Frage der Verfügbarkeit von Technologie. »Black Secret Technology« hat nicht umsonst einen Anklang von Hexerei.

»Cybergen« ist eine Droge, die den Willen direkt in Bilder umsetzt, obwohl das vielleicht unmöglich ist. Eine Art gesteuerter Traum. » Survival« und »The Nile« zeugen alle von dieser Suche nach einer noch möglichen Restpersönlichkeit, von einer virtuellen Geschichte, die gerade aufgrund der Virtualität ihrer selbst Frustration und Verlassenheit sein muss, aber gleichzeitig die einzig mögliche Basis für noch kommende Zeiten werden kann. Es spielt dann auch nicht unbedingt eine Rolle mehr, wer an welcher Stelle dieser fortschreitenden Aufreibung der Mächte innerhalb der technologischen Rahmenbedingungen arbeitet. Ob man sich in Cubase befindet oder im MPC 10, ob man einen Akai-SampleR benutzt oder Virtual Image Synthese - nur auf der richtigen Seite sollte man sein.

Gerald Simpson versucht, die Verbindungen wiederherzustellen zwischen dem pRä-infoRmationellen Zeitalter und der Zukunft, die noch nicht ist. Wie diese Zwiesprache zwischen dem » You're Going To Be A Bad Motherfucker«-Sample, der Drohung, so werden zu müssen, sich festlegen zu müssen, und dem kindlich gestotterten »I Never Want«-Sample. Der betreffende Track heisst »Gloktrack«, ein Stück über eine Knarre, wie Gerald gerne sagt, und das Ergebnis ist Milliarden Universen entfernt von jeder Art GangstaHit diesseits und jenseits des Ozeans.

Gerald Simpson liebt die Verbindungen, die Stimmen schaffen können: Daher seine Vorliebe für originäre Vocals, die Präsenz von anderen in seinem Studio, seien es Finley oder Kier, sein Bruder oder MC Tunes Bande. In seinem Studio finden die meisten seiner Begegnungen statt. Und dann ist es nur Recht: Wenn er selbst in seinem eigenen Universum die letzte Hand anlegt, um im Track allen - in seiner Sprache - neue Bedeutungen zu geben.

[Author: SASCHA KÖSCH ]